Autorin Ava Kingsley
Bücher- Welt

Leseprobe aus:
Das Genom des Bösen Teil I

Leseprobe aus: Das Genom des Bösen Teil I

Ausschnitte: Einleitung

Die Welt steht still. Bis vor einigen Minuten noch im Gefühl des Unbehagens und der inneren Anspannung, scheint sich jede Sicherheitsvorkehrung auszuhebeln. Kein Fluchtpunkt, nur Stille. Kein Knistern des Kaminfeuers. Als stünden die zuvor züngelnden Flammen still. Kein Knarzen der trockenen Dielen. Nicht einmal das gewohnte Pochen in den Schläfen. Nichts. Die Welt scheint still und lautlos einen Kreis um die beiden Männer zu ziehen, der immer kleiner wird und die Außen- von der Innenwelt gnadenlos abschirmt.

Adams sanfte und zugleich bedrohlich wirkende Stimme durchbricht die Mauer des Schweigens und lässt Joshua aus seiner lähmenden Ohnmacht aufschrecken. „Ich möchte dir ein letztes Geschenk machen, Joshua. Wenn du einem Menschen nicht auf Augenhöhe begegnen kannst, weil er dir unterlegen ist, dann erhebe ihn. Wenn du ihm nicht auf Augenhöhe begegnen kannst, weil er dir überlegen ist, dann folge ihm!“ Joshuas Hände beginnen unübersehbar zu zittern und Tränen sammeln sich in seinen Augen. Sein Herz beginnt in einem neuen Takt zu schlagen. Adam kommt ihm immer näher, seine Hände hängen entspannt herab, bis er fast vor ihm steht. Dann erhebt er die rechte Hand, nimmt Joshua die Waffe aus den Händen und blickt ihm tief in die Augen, während Joshuas Tränen ungehindert Bahnen durch das fahle Gesicht zeichnen. Adam wischt sanft eine dieser Spuren mit dem Daumen weg und umarmt ihn. „Vergib mir, Joshua, ich bin zu weit gegangen. Du kannst diese alte Schuld nicht sühnen, denn es ist nicht die deine!“ Dann geht er in Richtung Kamin, dreht sich um und blickt in Joshuas blutunterlaufene Augen. „Schließe jetzt deine Augen, Joshua, gleich ist alles vorbei!“

Ausschnitte: Zweites Treffen mit Adam

Zweites Treffen mit Adam

Vor dem zweiten Treffen fühlte sich Joshua schon wesentlich selbstsicherer. Vielleicht war das zweite Treffen auch von geringeren Spannungsgefällen beherrscht, weil er ohne Jennifer ins Gespräch ging. Wie beim ersten Termin trafen sie sich unter hohen Sicherheitsstandards und, obgleich Joshua wusste, dass diese Maßnahme sich durchaus lockern konnte, war er zumindest an diesem Tag durchaus dankbar, dass sein Termin auf dieser Ebene stattfand.

Ohne Adam in die Augen zu sehen, nahm er Platz und suchte nach seinem Diktiergerät. Adam fixierte jede seiner rastlosen Bewegungen amüsiert und legte entspannt die Arme auf die kleine Ablage vor sich. Joshua blickte suchend und irritiert auf die Hände und die Ablage von Adam. Er hatte keine Akten vor sich liegen. Dann blickte er direkt in die eisblauen Augen seines Gegenübers. Sein Grinsen war fesselnd, charmant und gewinnend, keinesfalls überheblich oder arrogant. „Hallo, Joshua, schön Sie zu sehen. Sie sehen etwas müde aus.“ Joshua versuchte zu lächeln, aber er konnte seine Enttäuschung nicht verbergen.

„Sicherlich fragen Sie sich, warum ich die Akten nicht vor mir liegen habe. Keine Angst, ich habe sie erhalten. Jenifer hat sie mir mit einer gewissen Bissigkeit vorgelegt. Leider durfte ich sie nicht behalten oder mitbringen. Ich konnte lediglich den ersten Fall Ted Bundy durchlesen.“ Joshua war irritiert: „Warum das? Was sollten Sie Verbotenes mit den Akten anfangen?“ Adam beugte sich ernst nach vorne. „Das sollten Sie Ihre Frau fragen! Es sind immer noch ihre Regeln, nach denen wir beide spielen müssen.“ Dann grinste er anerkennend. „Wie haben Sie es geschafft, Ihre Frau derart zu verärgern?“ Joshua antwortete: „Ich wüsste nicht, womit ich sie verärgert haben könnte, außer ...“ Joshua blickte genervt zur Seite, um dann wieder Augenkontakt aufzunehmen. Adam grinste weiter und meinte entspannt: „Lassen Sie uns beginnen und die kurze Zeit sinnvoll nutzen!“ Joshua hob kurz das Aufnahmegerät ins Blickfeld. „Wäre es für Sie in Ordnung, wenn ich unsere Gespräche aufnehme?“ Adam nickte ihm mit entspannter Miene zu und willigte somit ein. Nachdem Joshua den Aufnahmeknopf betätigt hatte, stellte er seine erste Frage: „Hatten Sie Zeit, sich den Fall Ted Bundy anzusehen, und wenn ja, was würden Sie zu dem bereits erstellten Psychogramm sagen oder hinzufügen?“ Adam lehnte sich zurück und streckte seinen Rücken durch, als wollte er eine überlegene Haltung gegenüber Joshua einnehmen. „Wie in der Erstellung des Psychogramms üblich, wird in erster Linie ein Persönlichkeitsmuster ermittelt. Hierzu fasst man Informationen der Herkunft, des sozialen Umfeldes, der intellektuellen Fähigkeiten und die bisherige Biografie zusammen. Natürlich sucht man auch nach Ursachen, was der Antrieb oder der Auslöser für das Morden waren. Hierbei hört man immer wieder den Begriff Trauma.“ Adam hielt kurz inne und beobachtete Joshua, als erwarte er eine Zwischenfrage, worauf sich Joshua regelrecht aufgefordert fühlte nachzuhaken. „Das klingt erst einmal sehr analytisch, aber wo bleibt Ihr eigener Bezug zu dem Täterverhalten, von Ted Bundy?“ Adam zeigte keinerlei Emotionen auf die direkte Konfrontation. Im Gegenteil, es schien, als hätte er genau auf diese Frage gewartet, um endlich sein wahres Potenzial zu präsentieren.

„Das Einzige, was mich und Ted Bundy verbindet, ist, dass wir beide als Serienmörder verurteilt wurden. Wir teilen weder die Biografie, die Art der Ausführung noch das Opferprofil. Aber das ist auch nicht Inhalt unseres heutigen Treffens, denn diese Stunde gehört ausschließlich Ted Bundy, Ihnen und Ihrem zukünftigen Bestseller.“ Diese Antwort duldete keinen Widerspruch und so ließ sich Joshua auf den festgesetzten Ablauf ein. Er wusste, irgendwann wird jeder geplante Serienmörder abgeschlossen sein und dann war Adam an der Reihe, ihm Rede und Antwort zu stehen, sich zu präsentieren und seine dunkelsten Anteile offenzulegen.

„Was hat Ted Bundy angetrieben?“ Adam legte die Hände übereinander und blickte Joshua fest in die Augen. „Nun, man sagt ihm eine gewisse Intelligenz nach, aber auch eine multiple Persönlichkeit, Narzissmus, Nekrophilie usw. Einige Punkte hatte man meiner Meinung nach allerdings vernachlässigt und über diese Vernetzungen möchte ich heute mit Ihnen sprechen. Es gibt einige Gegebenheiten, welche ein hohes Maß an Aggressionspotenzial in sich bergen. Man versucht innerhalb der intensiven Reflexion im Verhaltensmuster eines Serienmörders immer den einen roten Knopf zu finden. Dieser rote Knopf soll es sein, der den Menschen zur Bestie werden lässt. Diese Vorgehensweise in der Psychologie ist ebenso grotesk wie die Annahme, dass Krebs eine Krankheit ist.“ Joshua runzelte die Stirn. „Was hat Krebs mit einem Serienmörder zu tun?“ Adam erwiderte: „Mehr als Sie denken, Joshua! Bei Krebs konzentriert man sich auf einen bösartigen Tumor, ein aggressives Zellwachstum. Jedoch genau aus diesem Grund hat man es bis heute nicht geschafft, Krebs zu heilen. Wenn man erkennt, dass Krebs keine Erkrankung, sondern eine multiple Entgleisung ist, dann erkennt man auch, dass es nicht den einen Faktor oder die eine Ursache braucht, um an Krebs zu erkranken. Ebenso verhält es sich auch mit einem Serienmörder. Immer wieder spricht man von einer schweren Kindheit, von einem Trauma usw. Wäre ein Trauma allein ausreichend, um zu einem Serienmörder zu werden, dann würde es finster in dieser Welt aussehen.“ Joshua atmete sehr flach und lauschte begierig, ohne ihn zu unterbrechen. „Fassen wir die Biografie doch etwas detaillierter zusammen und schauen uns die multiplen Prozesse von Bundy ganzheitlicher an. Ein Punkt in der biografischen Erzählung wurde nur ganz kurz und sehr vage angesprochen, sein abnormes Verhalten als dreijähriger Junge gegenüber seiner Tante. Welches drei Jahre alte Kind, frage ich Sie, platziert Fleischermesser um eine schlafende Person?“ Adam lehnte sich zurück und fixierte weiterhin Joshuas Augen, als erwarte er abermals eine Zwischenfrage. Joshua zuckte mit den Achseln und zeigte damit, dass er sich ein solches Verhalten ebenso wenig erklären konnte. Nachdem er deutlich signalisiert hatte, dass er keine Frage und auch keine Antwort parat hatte, fuhr Adam fort.

„Wir kommen zur Welt, um zu lernen, Joshua. Die Frage, was wir lernen, auf welchen Wegen wir unser Wissen aneignen und wie wir uns entwickeln, ist natürlich zu einem großen Teil davon abhängig, in welche Struktur wir geboren werden. Wichtig ist, wer uns im Laufe unseres Lebens prägende Einflüsse beschert, wie umfassend und belastet unsere Reflexionsfähigkeit ist. Natürlich spielen auch Veranlagung und intellektuelle Fähigkeiten eine Rolle. Dennoch sind es die ersten zwei bis drei Jahre, die den größten Anteil unseres späteren Seins prägen, denn das ist die Zeit des Kopierens.“ Joshua fragte nach: „Habe ich das richtig verstanden? Sie sind der Meinung, dass Kinder bis zu diesem Zeitpunkt ihr Umfeld nur kopieren?“ Adam wurde konkreter: „Versetzen Sie sich doch einmal, für einen Augenblick, in die Lage eines Kleinkindes, welches seine Wahrnehmungen und Reaktionen noch nicht aufgrund eines selbst erlebten Wissensschatzes nutzen kann. Für Kinder sind der brüllende Vater und die weinende Mutter, der schlagende große Bruder usw. oft die einzigen greifbaren Informationen, welche täglich zur Verfügung stehen. Der Mensch ist leider darauf angewiesen, bis zu einem bestimmten Reifeprozess nachzuahmen und zu kopieren, ohne zu reflektieren, ob es gut oder böse, richtig oder falsch ist. Ähnlich einem Papagei, der Worte nachspricht, ohne deren Sinn zu hinterfragen. Solange eine ausgleichende Instanz auf ein solches Kind einwirkt, wird es sich in der Regel an den jeweiligen Modus anpassen, in welchem es sich befindet. Ist es in einem vertrauten Umfeld, in welchem man sehr laut und unbeherrscht, jähzornig und aggressiv miteinander umgeht, wird sich das Kind innerhalb seines Kopiermodus ebenso verhalten. Kommt es nun aber in ein weiteres vertrautes Umfeld, in dem es Ruhe und Umsicht erfährt, wird es sich auch dort ebenso zeigen können. Irgendwann aber wird eine der beiden Verhaltensweisen überwiegen und leider ist es meist die aggressive Verhaltensweise. Wissen Sie, Joshua, Aggression hat sehr viel mit Angst und Überforderung zu tun. Überwiegt in dieser Entwicklungsphase die Angst hat das Kind kaum die Wahl, Stresssituationen mit Ruhe und Besonnenheit zu begegnen. Hinzu kommt allerdings auch die Nachahmung von bestimmten Besonderheiten, hinter welchen sich entweder ein hohes Glücksgefühl oder ein hohes traumatisches Potenzial verbergen können. Diese werden unreflektiert übernommen und nachgeahmt. Und genau hier stellt sich die Frage, woher dieses Ritual kommt, Messer um eine Frau zu platzieren. Von der Mutter sicher nicht, einen Vater gibt es offiziell nicht. Aber was ist mit dem Großvater, welcher nicht nur im Verdacht steht, Ted innerhalb des familiären Inzests mit der eigenen Tochter gezeugt zu haben, sondern auch für seine Gewalt gegenüber Frauen und Tieren bekannt war.

Spinnen wir doch einmal weiter. Was wäre, wenn selbst die Entwicklung zum Serienmörder lediglich eine Fortsetzung des Kopierverhaltens in Verbindung mit einem Auslöser war? Nun kommen wir zur multiplen Entgleisung.

Bis zum 15. Lebensjahr glaubte er, seine religiös-fanatische Großmutter ist seine Mutter. Ich bin der Ansicht, dass besonders die religiösen Fanatiker dem Teufel näher sind als ihrem Gott.

Seine eigentliche Mutter wähnte er als seine große Schwester. Einer großen Schwester vertraut man meistens alles an, was man der Mutter vorenthalten möchte. Dann, in der schwierigen Phase der Pubertät, erfährt er, dass die eigene Schwester die eigentliche Mutter ist. Hier eröffnet sich der Verrat auf mehreren Ebenen. Was für ein Wahnsinn, nicht nur sehr spät über eine solche Familienlüge zu stolpern, sondern dann auch noch ein Inzestkind zu sein. Nicht nur ein Bastard, sondern ein Inzestkind!

Ein Stigma, das man nie wieder loswerden kann. Eine aufgestülpte Abnormität innerhalb der Gesellschaft. Die einzige männliche Bezugsperson scheint vor nichts zurückzuschrecken. Gewalt an wehrlosem Leben, egal, ob es ein Tier, eine Frau oder sogar sein eigen Fleisch und Blut ist. Vielleicht hatte er die einzige männliche Bezugsperson schon mit drei Jahren kopiert, ohne sich darüber bewusst zu sein, was es bedeutet, wenn man um eine Frau Fleischermesser platziert und darauf wartet, dass sie erwacht und sich zu Tode erschrickt. Da stellt sich doch die Frage, welche dunklen Geheimnisse, außer Inzest, Gewalt an Tieren und Frauen, seine Großmutter noch vertuschte? Wie viele Leichen liegen schon innerhalb dieser Generation im Keller, von denen vielleicht nie jemand etwas erfahren hat? Vielleicht nur eine Spekulation, vielleicht eine greifbare Erklärung für das Verhalten eines Kindes von drei Jahren.

Lange Zeit interessierte sich Ted Bundy nicht für Frauen. Eine normale Sexualität zwischen Liebenden stimuliert ihn offensichtlich in keiner Weise. Woher kommt diese Haltung?

Welche Art der Sexualität wir im Erwachsenenalter praktizieren und fokussieren, steht immer in enger Verbindung mit unseren ersten sexuellen Erfahrungen. Werden diese ersten Erfahrungen von Gewalt, Erniedrigung und Angst geprägt, wird es später fast unmöglich sein, eine liebevolle Sexualität zu leben.“ Adam beugte sich wieder nach vorn.

„Das Penetrieren eines Menschen hat immer auch mit Dominanz zu tun. Es ist in sich also bereits ein Akt der Gewalt. Alleine das Drumherum definiert es zu einem liebevollen Beischlaf oder zu einer Gewalttat. Bei einer Vergewaltigung, selbst innerhalb der Ehe, geht es nicht um Sexualität, sondern immer um Machtausübung, Demütigung, Unterwerfung und Stressabbau Es ist die Lust an der Macht über einen anderen Menschen. Es ist die Macht des Machtlosen. Waren Sie schon einmal bei einer Hure, Joshua?“ Joshua stockte bei dieser Frage der Atem. Adam grinste teuflisch und seine blauen Augen weideten sich an seiner Hilflosigkeit. „Keine Angst! Jennifer wird nie etwas davon erfahren. Warum auch, denn es ist ja schließlich kein Betrug an ihrer Liebe.“ Joshua räusperte sich und fand endlich seine Stimme wieder. „Das sehe ich etwas anders und nein, ich habe Jennifer nie mit einer Prostituierten betrogen.“ Adam konterte: „Was erregt Sie so an meiner Frage, Joshua? Betrogen hätten Sie Ihre Frau, wenn Sie sich in eine andere Frau verliebt hätten. Eine Hure erfüllt einen ganz anderen Zweck. Man geht hin und penetriert, um Stress abzubauen. Man nutzt die Abhängigkeit eines Menschen gnadenlos aus und redet sich mit Erfolg ein, sie würden es aus freiem Willen tun. Sind wir doch einmal ganz ehrlich, es interessiert uns einen Dreck, ob die Hure danach kotzt, weil wir sie in Wahrheit anwidern. Entscheidend ist doch, dass man das Gefühl der Macht auskosten kann, ohne Gefahr zu laufen, dass uns irgendjemand infrage stellt. Es ist weder die Einsamkeit noch die Lust, die uns dort hintreibt. Wir fühlen uns klein und möchten uns wieder groß fühlen, das ist die ganze traurige Wahrheit.“

Entspannt lehnte sich Adam wieder zurück und schwieg für einen Augenblick, als müsse er das Gesagte selbst erst sacken lassen.

Joshua fühlte sich nackt, gescannt und fragte sich, über wen sie eigentlich gerade sprachen, über Ted Bundy oder über ihn? Noch bevor er einen Kommentar abgeben konnte, fuhr Adam in seinen Ausführungen fort.

„Stellen wir uns doch die Frage, was die erste sexuelle Erfahrung von Ted Bundy war. Nicht lange vor seiner Hinrichtung hatte er über den Missbrauch durch seinen Großvater, seinen eigenen Erzeuger, gesprochen. Das war vielleicht eine der wichtigsten Erfahrungen in seinem Leben. Er wird von dem Menschen missbraucht, der auch jede andere Möglichkeit der Demütigung und Unterwerfung einsetzt, um seine Macht über andere auszuleben. Vielleicht hat er schon als Dreijähriger Dinge beobachtet oder miterlebt, die ihn erst später zu einem Serienmörder formen konnten.“ Joshua hakte nach: „Wollen Sie damit andeuten, dass eventuell schon sein Erzeuger ein Mörder war, der unerkannt seine bestialischen Phantasien vor einem Dreijährigen auslebte?“ Adam kniff die Augen zusammen. „Wie gesagt, reine Spekulation. Sein Erzeuger muss nicht zwangsläufig ein Mörder sein. Er gilt als Tierquäler, er misshandelte Frauen. Er schreckte nicht einmal davor zurück, seine eigene Tochter und seinen späteren Sohn zu missbrauchen.

Das könnte in einem Dreijährigen eine ganz neue Szenerie erschaffen haben. Er wird von klein auf von den Menschen belogen, denen er am meisten vertraut. Er erlebt das Paradoxon zwischen religiösem Fanatismus, der das Wort Gottes als Lebensgrundsatz fixieren soll, und der physischen und psychischen Gewalt seines Großvaters, Vaters oder Erzeugers, wie immer wir ihn auch nennen möchten. Seine erste sexuelle Erfahrung ist weit jenseits der Normalität. Die Frau spielt in seinem Heranwachsen immer eine untergeordnete Rolle. Großmutter, Schwester und Mutter verzerren das klassische Rollenbild. Er bleibt als Kind ebenso schutzlos wie seine weiblichen Bezugspersonen. Das für einen Mann klassische sexuelle Interesse an einer Frau spielt in dem heranwachsenden Jungen keine Rolle mehr. Wenn ein männliches Kind, ein Junge oder ein Jugendlicher durch einen Mann missbraucht wurde, wird er zeitlebens seine sexuelle Identität fehlinterpretieren. Ist Ihnen bewusst, wie viele Männer glauben, dass sie schwul sind, nur weil ihre erste sexuelle Erfahrung durch das gleiche Geschlecht stattfand? Das soll nicht bedeuten, dass jeder Homosexuelle von einem Mann missbraucht wurde.

Knüpfen wir das Netzwerk der Zusammenhänge weiter. Irgendwie hat Ted seine Kindheit und seine Jugend überstanden und all das Erlebte fault in seinem Inneren vor sich hin. Es gärt und brodelt tief in seiner Seele. Das Gefühl der multiplen Erniedrigung begleitet ihn durch alle Lebensabschnitte. Eine ganze Zeit lang wird er von dem Ehrgeiz getrieben, Anerkennung durch Leistung, aber auch durch sein Äußeres und seine Umgangsformen zu erlangen. Er sieht gut aus, hat auf Frauen eine gewisse Ausstrahlung, ist intelligent. Er ist das, was man einen klassischen Blender nennen könnte, denn er weiß sich jeder Gesellschaftsschicht perfekt anzupassen. Er bastelt ununterbrochen an seiner äußeren Kulisse. Er ist politisch aktiv und unterstützt eine Partei. Innerhalb des sozialen Engagements arbeitet er aktiv während des Studiums bei einer Suizid-Hotline. Alles, was er tut, dient ausschließlich seinem Image, nicht seinem inneren Bedürfnis. Er wertet sich mit seinem Image auf, doch tief in seinem Inneren kauert das Opfer. Die sicherlich furchtbaren Gewaltexzesse seines Großvaters, das übertragene Frauenbild, die eigene Wahrnehmung der Frau als williges Opfer ist prägend. Die untrennbare Verknüpfung von sexueller Erfahrung in Verbindung mit Gewalt und Demütigung führen zu einem sehr gefährlichen Seelenkonstrukt. Die Gier nach Macht, nach Besitzanspruch und die Sichtweise, dass man nur aus der Opferrolle heraustreten kann, indem man in die Rolle des Täters schlüpft, ist sein Überlebensmodell. Nun braucht es nur doch den einen Trigger, der einen ausreichenden Impuls setzt, um die Bestie zu entfesseln – und Sie haben einen Serienmörder Ted Bundy.“

Adam schwieg und als hätte er nichts mehr zu sagen, entspannte sich seine Körperhaltung sichtbar. Joshua wollte wissen: „Was war letztlich dieser Trigger?“ „Nun“, fuhr Adam fort, „seine erste Freundin durchschaute irgendwann offensichtlich seine Kulisse. Sie war taff und ehrgeizig. Vielleicht hatte sie erkannt, dass all seine Bemühungen, ob politisch, sozial oder auch beruflich, nur seelenlose Imageaktivitäten waren. Angeblich soll sie sich von ihm getrennt haben, weil er ihr zu unreif erschien. Was war wirklich der Grund und wie lief die Trennung ab? Eines ist sicher, dass die späteren Opferprofile in der Mehrzahl klare Parallelen zu seiner Freundin aufzeigten. Sie sind jung, gut aussehend, haben meist dunkle Haare und einen Mittelscheitel, sind intelligent. Obwohl er nach der Trennung sein Studium rigoros abbrach, zog es ihn immer wieder an die Universitäten zurück. Dort konnte er gleich auf zwei für ihn lebenswichtige Faktoren zurückgreifen. Er konnte sich über seine Intelligenz profilieren und er saß an einer sicheren Quelle, passende Opfer zu finden.“

„Noch zwei Fragen. Warum tötet er nicht seine Freundin? Auch eine spätere Freundin, die er regelmäßig über Tage besuchte, hatte er verschont.“ Adam warf lautlos lachend den Kopf in den Nacken.

„Würde er seine Trigger-Freundin getötet haben, wäre er möglicherweise kein Serienmörder geworden. Er tötete Stellvertreter und konnte so den Prozess immer wieder von vorn ausleben. Außerdem leben Serienmörder in zwei Welten, einer gesellschaftlich strukturierten und zugleich in ihrer eigenen Welt, jenseits der gesellschaftlichen Normen. Serienmörder wie Ted bauen zu den Opfern keinen emotionalen Bezug auf. Sie spielten in seinem Leben eine ganz spezielle Rolle. Er sah sie als Mittel zum Zweck, nicht als Bestandteil seines Lebens. Diese sterile Sicht auf die Opfer benötigte er auch, um sie ausschließlich als Opfer zu definieren, denn nur über ein Opfer kann er Macht ausüben. Seine Freundin war zu diesem Zeitpunkt kein typisches Opfer, eher das Gegenteil. Natürlich ist das lediglich meine Sicht und Auslegung der Dinge. Ich sitze hier und heute nicht als Psychologe und deute aus einem ganz anderen Lager heraus.“

Joshua wurde unruhig, denn er wusste, ihre Stunde war abgelaufen. Und so stellte er die letzte Frage, die sowohl abscheulich wie faszinierend war: „Warum schändete er die Opfer noch bis zum Stadium der Verwesung?“ Adam blickte auf seine Hände, um dann Joshuas intensiven Blick nochmals aufzunehmen. „Nekrophilie hat sicherlich ganz unterschiedliche Auswüchse. Ted weitete, meiner Meinung nach, sein Verhalten bis in den letzten Exzess aus. Was er praktiziert hatte, bezeichnet man als echte Nekrophilie. Sie müssen verstehen, dass die Sucht nach Macht, der Beherrschung eines Menschen, und zugleich eine tief verwurzelte Verlustangst gerade innerhalb der Nekrophilie in einer Dimension ausgelebt werden kann, wie nirgendwo sonst. Außer man hält sich einen Menschen als Sklaven, den man irgendwo eingesperrt hält. Ein lebendes Opfer über lange Zeit in seiner Nähe zu behalten, birgt jedoch auch immer die Gefahr einer persönlichen Bindung. Ted suchte jedoch keine persönliche Bindung. Er wählte seine Opfer nach einem bestimmten Profil aus. Er überfiel sie nicht einfach, sondern erschlich sich ihr Vertrauen und manipulierte sie somit. Dann tötete er sie mit roher Gewalt in einem distanzlosen Gewaltexzess. Dabei ging er bei jedem neuen Opfer immer massiver vor. Er setzte dabei sowohl stumpfe Gewalt auf den Kopf wie auch andere Hilfsmittel ein. Selbst das Abtrennen des Kopfes oder der Extremitäten waren nichts weiter als das Sammeln von Trophäen, an denen er sich auch dann noch weiden konnte, nachdem der restliche Körper vergraben oder zerstört war.

Zum Schluss zeigte er im Blutrausch sogar kannibalistische Tendenzen auf. Er riss den letzten Opfern Fleischstücke aus dem Körper, was ihn letztlich durch seine Zahnabdrücke zweifelsfrei entlarvte. Das ist die letzte Stufe, einen Menschen zu beherrschen, ihn zu verinnerlichen. Ihn in sich aufzunehmen und ihn somit seiner eigenen Identität zu berauben, indem man ihn zu einem Teil seines eigenen Ichs werden lässt.“ Das einsetzende Schweigen verriet Joshua, dass die Sitzung definitiv zu Ende war.

Er drückte den Knopf des Aufnahmegerätes und blieb in seiner Position zurück, während Adam sich langsam erhob. Aus dieser Perspektive wirkte er mehr als bedrohlich. Sein Blick war ernst, finster und eiskalt, auch wenn sein Mund ein leichtes Lächeln zeigte. Dann ließ er sich, ohne sich noch einmal umzudrehen, von den Wärtern aus dem Raum führen. Diesmal musste man Joshua nicht auffordern zu gehen. Mit einem tiefen Seufzer stand er auf, packte seine Utensilien ein und verließ den Trakt und das Gefängnis.

_______________________________________________

Leseprobe aus:
Das Genom des Bösen Teil II

Wir können das Leben nicht in Kapiteln einteilen, denn alles, was wir in der Vergangenheit erlebt haben, wird unsere Gegenwart beeinflussen. Alles, was wir in der Gegenwart entscheiden, werden wir in der Zukunft rechtfertigen müssen!

Nach der Entwirrung traumatischer Familiengeheimnisse machen sich Adam, Joshua und Henry auf den Weg, um gemeinsam neue Ziele zu verfolgen, aber auch, um sich von alten Ketten zu lösen. Während sich für jeden neue Perspektiven eröffnen, bleiben doch unsichtbare Verstrickungen bestehen, welche die Familie in ungeahnte Gefahren bringen.

Das neu gewonnene Vertrauen kommt nicht zuletzt dadurch ins Wanken, dass sich Adam wieder in alte Verhaltensmuster begibt.

Sowohl Henry als auch Joshua spüren, dass Adam nicht alle Karten auf den Tisch gelegt hatte. Immer deutlicher zeigt sich Adams Verhalten als undurchsichtiges Netzwerk. Dennoch versuchen alle, an dem neu geknüpften Familienband festzuhalten. Doch Adams Vergangenheit und Henrys Wurzeln ziehen wie Schatten lautlos in ihrem Leben ein und bringen Realitäten zum Vorschein, auf die niemand vorbereitet war.

Nachdem die ersten Hürden erfolgreich überwunden scheinen, bahnt sich im Hintergrund eine wesentlich größere Katastrophe an.

Die Familie schützend, scheint sich das Trio immer mehr zu verselbstständigen. Jeder agiert für sich und das Misstrauen zwischen Joshua und Adam führt letztlich dazu, dass sich der Kreis einer Verschwörung mit dramatischen Auswirkungen entwickeln kann.

__________________________________

Kapitel 2/ ausschnitt aus: Das Ritual

Er rannte durch den Wald. Dabei schmerzte seine Lunge, sein Kopf fühlte sich heiß an und sein Herz pochte so laut wie eine große Blechtrommel. Er schaute sich immer wieder nach hinten um. Manchmal drehte er sich kurz im Kreis, um auch die anderen Bereiche um sich herum auszuloten. Dann sah er es: das Licht weit hinten zwischen den Bäumen. Er hörte Sprechgesänge, dunkel, monoton. Er hörte eine Frau, die wimmerte wie ein junger Welpe. Henry blieb stehen und schaute sich abermals nach Adam um. Aber er war nicht mehr hinter ihm. Mit glühenden Wangen schlich sich Henry in die Richtung des Lichts. Als er nah genug war, erkannte er, dass es ein Kreis aus Fackeln war. Er sah die dunklen Gestalten der Fackelträger, die Gesichter unter Kapuzen verborgen.

Er sah die wimmernde Frau, die nackt auf einem großen Stein gefesselt lag. Er sah eine Gestalt mit dem Kopf einer Ziege, der auf dessen eigenen Haupt ruhte. Dieses Bild erinnerte ihn an die alten Bilder von Indianern, die sich in das Fell eines Tieres hüllten. Es knackste unter seinen Füßen. Er duckte sich, als sich der Ziegen-Mann, dem Geräusch folgend, ihm zuwandte. Der Zirkel stellte den Sprechgesang ein. Die Stille wurde nur durch das Wimmern der Frau unterbrochen. Im Licht der Fackel konnte er das Gesicht des Ziegenmannes erkennen. Erschrocken wich er zurück, um fortzulaufen. Er rannte und rannte und schrie nach Adam. Seine Augen sahen nur noch schemenhaft, wohin er lief. Überall schienen sich Schatten hinter den Bäumen und Büschen zu verbergen. Der Blick des Ziegenmannes verzerrte seine Wahrnehmung. Er kannte das Gesicht und doch war es ihm fremd. Dann stolperte er und schlug mit dem Kopf an einen Baumstamm …

Henry erhob sich schwerfällig und erkannte, dass es nur ein Albtraum war. Chester schlief fest am Lagerfeuer, das schon fast erloschen war. Henry fand mühsam den Weg aus dem Schlafsack und legte Holz nach. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihm, dass er bereits gute drei Stunden geschlafen hatte. Dennoch sehnte er sich den Morgen herbei. Plötzlich schien ihm die Idee, draußen zu übernachten, nicht mehr so klug zu sein. Doch der ruhige Schlaf seines Hundes gab ihm Sicherheit. Er beschloss, nicht ins Haus umzuziehen, sondern durchzuhalten. Er musste sich seinen Ängsten stellen, wenn er begreifen wollte, was da in seinem Hinterkopf schwelte!

Er setzte die fast volle Kaffeekanne wieder aufs Feuer und leerte den Blechbecher vom kalten Kaffee des Abends, um ihn für einen heißen Kaffee vorzubereiten. Chester schreckte kurz auf, gähnte ausgiebig und rollte sich näher ans Feuer, bevor er wieder in einen tiefen Schlaf fiel. Henry grinste, während er das brodelnde Heißgetränk eingoss. Schöner Wachhund, dachte er und nahm einen Schluck. Der Kaffee schmeckte scheußlich, war viel zu stark und schien zu garantieren, dass man die nächsten drei Tage wach bleiben würde. Als Henry es sich gerade wieder auf seiner Liege bequem machen wollte, wurde er durch ein unüberhörbares Knacksen aufgeschreckt. Er war sich sicher, es kam direkt aus dem gegenüberliegenden jungen Wäldchen. Henry hielt den Atem an und lauschte in die Nacht. Es war wieder alles still. Ein Tier vielleicht, dachte Henry. Er stand auf, während er nach seiner Pistole griff. Suchend drehte er sich in alle Himmelsrichtungen um und musste sich eingestehen, dass die Außenbeleuchtung kaum eine Hilfe war. Im Haus lag noch die Taschenlampe, die er eigentlich bereitgelegt hatte, um sie mit nach draußen zu nehmen. Aber er hatte sie vergessen. Henry ging mit großen Schritten zur Blockhütte. Chester wurde aus dem Schlaf gerissen und folgte ihm. Henry betrat die Hütte und griff nach der Taschenlampe auf der Fensterbank, ging dann sofort wieder nach draußen, um nach der Ursache des Geräusches zu suchen. Sein aufgeschreckter Hund lief wedelnd, aber orientierungslos neben seinem neuen Herrchen her und schaute immer wieder zu ihm auf, als wolle er fragen, was los sei. Vermutlich schien der Hund nichts Fremdes oder Beunruhigendes zu wittern oder er war zu sehr auf Henry fixiert. Als dieser das Lager erreicht hatte, leuchtete er mit einem großen Lichtkegel die nahe Umgebung aus. Wäre ein Tier in der Nähe, könnte sich eventuell das Licht in den Augen brechen sowie Standort und Größe des Tieres verraten. Es war nichts zu sehen und auch nichts mehr zu hören. Nur Chester schaute plötzlich in eine bestimmte Richtung und verharrte angespannt, als würde er etwas wahrnehmen können, das Henry noch verborgen blieb. Henry ging neben Chester in die Hocke und legte den Arm auf seinen Rücken, ohne ihn direkt zurückzuhalten. Chester knurrte und fletschte die Zähne. Henry aktivierte wieder die Taschenlampe und leuchtete die Richtung ab, die Chester anscheinend brennend interessierte. „Was ist dort, Chester?“ Der Hund riss sich aus Henrys leichtem Griff und rannte bellend los. Henry sprang erschrocken auf. So sehr er sich über Chesters beherzten Einsatz freute, erwartete er jede Sekunde ein letztes Aufheulen seines Hundes. Es war ein Irrsinn, draußen zu schlafen, dachte Henry. Er ärgerte sich über sich selbst und darüber, seinen unerfahrenen Hund so in Gefahr gebracht zu haben. Mit gezogener Waffe ging er in die Richtung, in die Chester lief. Er leuchtete jeden Bereich vor sich ab. „Chester, bei Fuß! Komm, alter Junge, bei Fuß!“

_________________________________________

Leseprobe aus:
Das Genom des Bösen Teil III

Unsere Gesellschaft gleicht einem Eisberg. Nur ca. 10% sind für uns sichtbar und somit existieren 90%, die sich unserem bewussten Blick entziehen. Welche Gefahren sich hinter diesen 90% verbergen können, bleibt den meisten Menschen verborgen. So verlassen wir am Morgen unser sicheres Zuhause und tauchen in die 90% ein, die wie ein Blindflug durch die Finsternis anmuten. Alles ist möglich. Nichts ist selbstverständlich. Wem oder was werden wir an diesem Tag begegnen? Wie viel werden wir tatsächlich von den schier unsichtbaren Spinnenfäden wahrnehmen, welche sich mit uns zu einem unvorhersehbaren Muster verspinnen. Die Antwort ist: 10%.

Was aber würde geschehen, wenn wir unsere Wahrnehmung schärfen? Fakten hinterfragen? Abtauchen unter die glatte Spiegelfläche der unbewussten Verdrängung? Die Antwort ist: Wir würden 90% einer Parallelgesellschaft erkennen und über ein Wissen verfügen, dass uns Dimensionen eröffnen würde, die uns weit über unsere Grenzen führt.

______________________

Leseprobe aus Kapitel 1: Die Jagd

Das Treffen zwischen Eleonora und Adam fand an ihrem geheimen Treffpunkt statt. So wie sie es in all den Jahren auch gehalten hatten. In ihrer Tasche hatte sie ein Prepaid-Handy für Adam und eine Bargeldsumme, die er schon vor einiger Zeit bei ihr hinterlegt hatte. Adam hatte einen Brief für Henry, Joshua, Luisa und Jennifer in der Tasche. Den Brief für Henry sollte Eleonora sofort übergeben, die anderen Briefe nur, wenn ihm etwas zustoßen würde.

Das Mausoleum war um diese Zeit leer. Eleonora betrat unsicher den Raum, nachdem sie einen Blick durch den Türspalt geworfen hatte. Adam stand mitten im Raum. Er sah mitgenommen aus. Mit eiligen Schritten ging Eleonora auf Adam zu, der wie erstarrt ihr Entgegenkommen still erwartete. Jeder ihrer Schritte hallte in dem erhabenen Raum. Bei Adam angekommen umarmte sie ihn und spürte Adams reglose Haltung. Fragend und besorgt drückte sie sich wieder von ihm ab und legte beide Hände um sein Gesicht. Adam schien über Nacht um zehn Jahre gealtert. „Ich weiß, Adam, das Kreuz, das du trägst, wiegt schwer.“ Adam legte seine Hände auf Eleonoras Hände. „Ist denn deines leichter als meins?“ Adam fixierte Eleonoras Augen und sie entzog ihre Hände, öffnete die Tasche und übergab ihm wortlos das Handy und das Kuvert mit dem Bargeld. Adam hielt ihr zuerst den Brief für Henry entgegen. „Gib Henry diesen Brief, ohne es einem anderen zu offenbaren! Er enthält alles, was er zu diesem Zeitpunkt wissen muss. Die Briefe in dieser Mappe gibst du nur weiter, wenn mir etwas zustoßen sollte. Bis dahin darf sie niemand, auch nicht Henry, zu Gesicht bekommen.“ Eleonora nickte und nahm die Briefe entgegen. Dann legte Adam seinen Arm um sie und führte sie in den hinteren Teil des Saales. Eleonora folgte seinem leichten, aber bestimmten Druck ohne Widerwehr. Als er stehen blieb, drehte er Eleonora zu sich und blickte sie verbindlich an. „Ich glaube, du hast noch eine wichtige Information für mich.“ Eleonora ging ein paar Schritte weiter und wandte sich Adam wieder zu. Sie drückte den Rücken durch und atmete tief ein, als würde sie dieses lange gehütete Geheimnis nur sehr ungern preisgeben. „Worauf genau möchtest du hinaus?“ Adam trat wieder näher auf Eleonora zu und fixierte sie, um ein weiteres Ausweichen ihres Blickkontaktes zu verhindern. Er wollte ihr in die Augen sehen und sicher sein, dass sie ihm alles sagen würde. „Bevor Cassandra starb, hat sie mir ein Versprechen abgenommen.

Es fielen die Namen Aurelia und Silvana. Sie hat mir das Versprechen abgenommen, mich um sie zu kümmern und für ihre Sicherheit zu sorgen. Sie hatte mir außerdem gesagt, dass Reverend Jakobus oder du wüsstet, wo sie sind.“ Erwartungsvoll bohrten sich Adams Blicke in Eleonoras Augen. Eleonora legte ihre Hand an Adams Arm. „Bevor ich dir eine Antwort geben kann, muss ich dir eine wichtige Frage stellen: Was planst du in näherer Zukunft zu tun? Ich meine, ich musste dir ein Handy besorgen und deinen kompletten Bargeldvorrat mitbringen und das sicherlich nicht ohne Grund.“ Adam senkte nachdenklich den Blick und er wusste, worauf Eleonora hinauswollte.

__________________________________

Leseprobe aus Kapitel 3: Spiegelbilder

Peggy folgte Rubens Griff ohne Wiederwehr. Alles, was sich im Augenblick in ihrem Kopf unaufhörlich abspulte, war ein Überlebensprogramm. Offensichtlich hielt er sich noch alle Optionen offen und es war noch nichts entschieden. Seltsamerweise dachte sie in ihrer Panik nicht an ihre Mutter, sondern an ihre obdachlose Freundin. Es war, als stünde sie neben ihr und flüsterte ihr ins Ohr: ´bleib ganz ruhig und besonnen, auch er hat irgendwo einen roten Knopf und du musst genau hinsehen und hinhören. ` 

Wie eine Marionette ließ sich Peggy in das kleine Badezimmer führen. Nachdem sie fest mit dem Schlafzimmer gerechnet hatte, war sie etwas irritiert, im Badezimmer gelandet zu sein, und fragte sich, was dieser Irrsinnige jetzt mit ihr vorhatte. Mitten im Badezimmer stand einer der alten Holzstühle aus der Küche und ein großer Pilotkoffer stand daneben. Ruben setzte sich entspannt grinsend auf den Stuhl und forderte Peggy auf, den Koffer zu öffnen, was sie auch wortlos tat. Ihr eröffnete sich überraschend ein Sammelsurium, ihr vertrauter Gegenstände. Es war ein perfekt zusammengestellter Frisierkoffer. Fragend warf sie Ruben einen auffordernden Blick zu, während sie noch neben dem Koffer, zu Rubens Füßen, in der Hocke verweilte. Ruben strich wiederum durch ihr Haar. Panisch erwartete Peggy, dass er gleich ihren Kopf erneut nach hinten zerren würde, so wie er es bereits im Schlafzimmer getan hatte, um ihr zu zeigen, dass sie sich keine Sekunde in Sicherheit wiegen sollte. Aber das tat er nicht. Er spielte mit ihren Haaren. Durchwühlte sie zärtlich, spielte mit den großen Locken. Peggy lief ein Schauer nach dem anderen über den Rücken und die Stimmung im Raum knisterte. „Schade um die schönen roten Haare. Sie machen dich so besonders. Aber genau das kann ich mir im Augenblick nicht leisten. Die müssen nicht nur ab, ich habe dir auch eine schöne Farbe ausgesucht.“ Ruben beugte sich zum Koffer und entnahm ein Färbemittel mit dem Farbton Schwarz und streckte Peggy die Farbe entgegen. Ruben erwartete Gegenwehr, aber Peggy nahm sie entgegen, ohne zu widersprechen. Sie wäre bereit gewesen, ihre Haare grün zu färben, solange sie den Tag heil überstehen würde. „Darf ich die Haare schulterlang lassen?“ Ruben legte seinen Zeigefinger unter ihr Kinn und küsste sie. „Kleines, eitles Ding! Aber wenn du so nett fragst, kann ich dir nichts abschlagen. Also schwarz und schulterlang. Denke an deine Augenbrauen! Es muss absolut überzeugend aussehen. Aber zuerst bin ich dran.“ Peggy stand auf und betrachtete unaufgefordert Rubens dunkle Haare. „Sag jetzt nicht, dass sie vorher blond waren?“ Ruben grinste und konterte: „Dunkelblond. Es ist Zeit, mein wirkliches Ich zu offenbaren und die Maskerade loszuwerden. Du kannst jetzt zeigen, ob du was draufhast. Enttäusch mich besser nicht!“ Peggy wusste, sie verstand ihr Handwerk noch lange nicht meisterhaft, aber sie wusste auch, dass sie keine andere Wahl hatte, als diesen Test zu bestehen. Die Nacht war noch lang und sie arbeitete unaufhaltsam auf die magische Stunde 9:00 Uhr zu.